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Wolter - Flüchtling

Gudrun Wolter
«Flüchtling bleibt man sein Leben lang»:
das Schicksal der Vertriebenen nach 1945



Peter Kurzeck hat immer wieder denselben Traum: Mit einem Koffer in der Hand kommt er an einem Bahnhof an. Im selben Moment
weiß er nicht mehr, wo er sich befindet. Verzweifelt versucht er, sich wenigstens an das Ziel seiner Reise zu erinnern. Vergeblich. Plötzlich
verschwindet sein Gepäck, dann der halbe Bahnhof um ihn herum.
Und er steht verloren am Rande eines Niemandslandes ...

Peter Kurzeck stammt aus Tachau im Böhmerwald und war drei Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seiner Schwester den «Abschub»
erlebte, wie die Tschechen die Vertreibung der Sudetendeutschen bis heute nennen. Er wuchs im hessischen Staufenberg auf.
Horst-Dieter Lindner ist, wie er sagt, im Sauerland zu Hause. Dort besuchte er jüngst ein Klassentreffen seiner Realschule. Man
sprach über die früheren Zeiten, und er bedankte sich nachträglich bei seinen ehemaligen Mitschülern: «... dafür, dass sie mich nie ha
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ben spüren lassen, dass ich aus dem Osten kam.» Als Sechsjähriger ist er mit seiner Familie aus Breslau vertrieben worden, hat Gewalt
und Willkür erlebt, die Hilflosigkeit und Todesangst der Erwachsenen, das Gefühl, vollkommen ausgeliefert zu sein. Angekommen im
Sauerland, ein evangelisches Stadtkind in einer katholisch-ländlichenUmgebung, hat der Junge seine ganze Kraft darauf verwendet, sich
anzupassen. Er ging mit den anderen in die Messe, schaute sich das Bekreuzigen ab, verleugnete seine Herkunft, den sozialen Absturz,
die Unterkunft neben dem Flüchtlingslager. Er hat sich, wie viele Kinder von Vertriebenen, mit zähem Fleiß hochgearbeitet
und blieb sein Leben lang darum bemüht, nicht aufzufallen.

Auch Ingrid Berlik hat es geschafft. Sie war zwölf, als sie mit der Mutter und den Geschwistern aus Danzig vertrieben wurde und in
Drachensee bei Kiel landete, in einem ehemaligen Lager für Zwangsarbeiter. Das Mädchen aus gutbürgerlichem Hause lebte fortan in
einer Baracke, ohne jede Intimsphäre, in hygienischen Verhältnissen, die jeder Beschreibung spotteten, in bitterer Armut. Als «dreckiges
Lagermädchen» im Gymnasium ausgegrenzt, verstummte sie und ging mit zähem Willen ihren Weg. Mit viel Glück errang sie einen
Platz in einem katholischen Internat, studierte zwei Jahre in Kiel und konnte 1956, als angehende Lehrerin, mit der Mutter und den
kleineren Geschwistern endlich das Lager verlassen und gemeinsam in eine kleine Mietwohnung einziehen. Ingrid Berlik war seitdem viel
im Ausland unterwegs, hat nie wieder Wurzeln geschlagen, ein Leben lang auf dem Sprung. Jahrelang hatte sie ausharren müssen in
einer unwürdigen Situation, ohne daran etwas ändern zu können.
Wenn sie sich künftig irgendwo nicht mehr wohl fühlte, ergriff sie die Flucht.
Peter Kurzeck, Hans-Dieter Lindner und Ingrid Berlik sind drei von zwölf Millionen Deutschen, die als Folge des von Deutschland
begonnenen Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in dem Gebiet, das vom Deutschen Reich übrig blieb, ihr Leben
ganz von vorn beginnen mussten. Es sind Geschichten wie diese, die heute deutlich machen, dass der Lebensweg dieser Menschen nach
1945 nur unzureichend beschrieben ist, wenn man pauschal von gelungener Integration spricht. Die meisten haben es mit viel Fleiß
und Zielstrebigkeit wieder zu materiellem Besitz gebracht und sich darüber hinaus auch die Anerkennung ihrer einheimischen
Nachbarn erworben. Doch der Preis dafür war hoch. Sie verstummten, verdrängten, verleugneten, was ohnehin niemand hören wollte.
Schätzungsweise jeder vierte Bundesbürger hat heute Vertriebene in seiner Familie Großeltern, Eltern oder Schwiegereltern. Die
Generation der Enkel weiß häufig genug nur, dass der Opa irgendwo aus Ostpreußen stammt oder die Oma aus dem Sudetenland. Doch wie
ihr Lebensweg verlief, welche Kraft der Neuanfang gekostet hat, wie viele Demütigungen sie erlitten, wie viel Zorn und wie viele Tränen
sie herunterschluckten, um ihr Ziel, endlich wieder dazuzugehören, nicht aus den Augen zu verlieren das haben die Alten nicht erzählt
und die Enkel nicht gefragt. Und immer wenn in Todesanzeigen ein Geburtsort in Schlesien oder Ostpreußen, in Pommern oder Böhmen
auftaucht, ist wieder jemand gegangen, den man hätte fragen können: Wie erträgt man es, wenn einem ohne Vorwarnung jede Sicherheit genommen wird? Wenn man aus allen Bindungen herausgestoßen wird? Wenn man nicht nur Haus und Hof, Hab und Gut verliert, sondern
auch Verwandte und Nachbarn und die Gewissheit, in einem vertrauten sozialen Gefüge einen festen Platz zu haben?


Wenn man
auch die gewohnte kulturelle Umgebung verlassen muss die Landschaft mit ihrem Licht, ihren Farben und ihrem Geruch, mit Wiesen
und Wäldern, mit Dörfern und Städten, mit der typischen Architektur, den traditionellen Festen, mit der Sprache und der Geschichte,
in die die eigene Familie eingebunden ist? Was passiert, wenn man Menschen all das nimmt und sie zwingt, als Unbekannte in einer in
jeder Hinsicht fremden Umgebung ihr Leben neu zu beginnen? Es sind solche Fragen, die den Anstoß für dieses Buch gegeben haben.
Als sich Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin im November 1943 in Teheran trafen, um über eine mögliche
Nachkriegsordnung zu beraten, spielten derlei Fragen keine Rolle. Schnell war klar, dass Stalin einen Teil der polnischen Ostgebiete
für sich beanspruchte – bis zur sogenannten Curzon-Linie, der 1919 festgelegten polnisch-sowjetischen Grenze, die sich in etwa mit
der Grenzziehung des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 deckte. Und weil Polen als Opfer des Krieges nicht für Stalins Gebietsansprüche büßen sollte,
beschloss man, sein Staatsgebiet auf Kosten Deutschlands nach Westen zu verschieben. Damit waren die Weichen für die Vertreibung
von mehreren Millionen in Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, Pommern, Posen, Ostbrandenburg und Schlesien beheimateten
Deutschen, aber auch von Millionen im zukünftigen sowjetischen Staatsgebiet lebenden Polen gestellt. Was das für die betroffenen
Männer und Frauen, Kinder und Alten bedeuten würde, stand nicht zur Debatte.
Zwangsumsiedlungen, Aussiedlungen, Vertreibungen galten seit Ende des Ersten Weltkriegs als probates Mittel, um
Nationalitätenkonflikte zu befrieden – Folge der Nationalstaatsidee, die sich im 19. Jahrhundert in Europa auszubreiten begann. Bis dahin definierten
sich die Staaten vor allem über die Loyalität ihrer Untertanen gegenüber dem Herrscherhaus. Im Königreich Preußen konnten
beispielsweise Hugenotten weiterhin in Schulen und Kirchen französisch sprechen und dennoch preußische Staatsbürger sein. Mit
den bürgerlichen Freiheitsidealen und den aufkommenden Nationalbewegungen änderte sich das – jetzt wurde der Staat als Zusammenschluss von
Bürgern eines Volkes, einer Sprache und Kultur verstanden. Noch im 19.Jahrhundert lösten sich Griechenland, Serbien, Rumänien und
Bulgarien aus dem Osmanischen Reich. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schließlich gingen aus der Konkursmasse der großen
Vielvölkermonarchien – Österreich-Ungarn, russisches Zarenreich und Osmanisches Reich – weitere neue Nationalstaaten hervor:
Finnland, Estland, Lettland und Litauen, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn.
Tatsächlich gab es auf der europäischen Landkarte jedoch nur wenige ethnisch einheitlich besiedelte Gebiete. Jeder der neuen Nationalstaaten beherbergte deshalb keinesfalls nur ein einziges Volk,
eine einzige Kultur und Sprache. Und so fanden sich plötzlich viele Menschen in ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat als
misstrauisch betrachtete Minderheit eines neuen Staates wieder.

Konflikte waren programmiert, und Türken und Griechen waren die Ersten, die sie blutig austrugen – an ihnen wurde vollzogen, was
harmlos «Entmischung» hieß. 1923, nach dem griechisch-türkischenKrieg, regelte der Vertrag von Lausanne den «Bevölkerungstransfer»
von rund1,8Millionen Menschen:430000Türken wurden daraufhin aus Griechenland ausgesiedelt,1,35Millionen Griechen mussten
die Türkei verlassen– darunter auch die Familie des griechischenLiedermachers Mikis Theodorakis.12Das millionenfache Leid, das diese Vertreibung mit sich brachte,
wurde ignoriert. Denn jetzt, als nationale Staaten in Europa Wirklichkeit und nicht mehr wegzudenken waren, galt die «Entmischung»
der durcheinander siedelnden Völker als fast zwangsläufige Konsequenz.
«Vertrieben für Frieden» hieß die Formel, und sie galt als Erfolgsmodell zur Vermeidung künftiger Nationalitätenkonflikte. Darauf
besann sich zwanzig Jahre später US-Präsident Roosevelt, als er,ein halbes Jahr vor der Konferenz von Teheran
1943, dem britischenAußenminister Anthony Eden erklärte: «Wir wollen Vorkehrungentreffen, um die Preußen aus Ostpreußen auf die gleiche Weise zu entfernen, wie die Griechen nach dem letzten Krieg aus der Türkei ent
fernt wurden.» Eineinhalb Jahre später verkündete Winston Churchill in einer Rede vor dem britischen Unterhaus: «Die Vertreibung
ist– soweit wir es zu überschauen vermögen– das befriedigendsteund dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung
geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen wie im Fallvon Elsass-Lothringen. Es wird gründlich aufgeräumt.»
Churchill hielt diese Rede am15. Dezember1944. Da war der kleine Peter Kurzeck noch in Tachau, Ingrid Berlik noch in Danzig und
Horst Dieter Lindner in Breslau. Ein Woche darauf würden sie Weihnachten feiern– ohne zu wissen, dass es das letzte Weihnachtsfest
in der Heimat sein sollte. Doch ihr Schicksal und das von MillionenMenschen in Europa war längst besiegelt, und mit der vorrückenden
Roten Armee wurden Fakten geschaffen. Bei der Konferenz in Potsdam im Juli1945wurden nur noch die Einzelheiten geregelt. Sofern
die Deutschen im Osten nicht schon vor der sowjetischen Armeegeflohen, auf dem Balkan vor dem Anrücken der jugoslawischen
Partisanen evakuiert worden oder den wilden Vertreibungen durchTschechen oder Polen zum Opfer gefallen waren, sollte «die Über

führung der deutschen Bevölkerung [...] in ordnungsgemäßer undhumaner Weise erfolgen». Doch das sicherzustellen, sahen sich die
USA und Großbritannien außerstande– die Deportationen fandenim Einflussbereich Stalins statt, und tschechische wie polnische Mi
13lizionäre hatten meist wenig zu befürchten, wenn sie Rachegelüstean Deutschen auslebten.Die Alliierten hatten ein Großexperiment nie gekannten Aus
maßes angestoßen, die größte ethnische Säuberung der europäischenGeschichte– einer Idee folgend, die ihnen die nächstliegende schien,
die ihren Interessen entgegenkam und denen jener Nationen, dieunter dem von Deutschland begonnenen Krieg, der nationalsozialis
-tischen deutschen Besatzung und der damit einhergehenden Willkürund Gewalt am meisten gelitten hatten. Unter deutscher Herrschaft
hatten Polen und Tschechen Zwangsumsiedlungen und Massenmorderlebt. Die Ausweisung der deutschen Bevölkerung schien daher fol
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gerichtig und befriedigte außerdem den Wunsch nach Rache für daserlittene Leid der eigenen Bevölkerung.
Die Familie Elvira Schmidts beispielsweise hatte ihren Bauernhofin Bessarabien, einem deutschen Siedlungsgebiet am Schwarzen
Meer, notgedrungen verlassen– als Folge des Hitler-Stalin-Paktesvon1939und der nationalsozialistischen «Heim-ins-Reich»-Politik.
Bessarabien gehörte jetzt zu Stalins Interessengebiet. Elviras Familie wurde, nach einer mehrmonatigen Odyssee durch verschiedene
Lager, im deutsch besetzten polniscen Warthegau angesiedelt. DasHaus, in das sie einzogen, war komplett eingerichtet
– die Polen,denen es gehörte, waren daraus vertrieben worden.1945traf diesesSchicksal dann Elvira Schmidts Familie selbst. Sie musste zum zwei
ten Mal ihre Sachen packen, mit ungewisser Zukunft.Die lebenslangen Folgen für jene Menschen, die die Vertreibung
unabhängig von möglicher persönlicher Schuld traf, konnten undwollten die Siegermächte nicht ermessen. Doch als Besatzungsmäch
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te sollten sie bald alle Hände voll zu tun haben, um für Kleidung,Nahrung und Unterkunft von zwölf Millionen Menschen zu sorgen,
die im schwer zerstörten Deutschland westlich von Oder und Neißeankamen, schmutzig, hungrig, ausgeplündert, traumatisiert von den
Erlebnissen während ihrer Flucht und Vertreibung.Eine, die davon betroffen war, ist Hildegard Spors. Sie floh imFebruar1945aus Schlochau in Westpreußen. Der Vater, der noch
14einmal zurückging, um nach den Tieren zu sehen, wurde von sowjetischen Soldaten erwischt und kam nie wieder. Eine Cousine wurde
unterwegs erschossen, weil sie sich einem Rotarmisten widersetzthatte. Ihre Mutter wurde an die Wand gestellt und entkam nur durch
einen glücklichen Zufall der Erschießung. «Todesangst hatten wir dieganze Zeit. Immer. Immer.»Hildegard Spors’ Familie brach die Flucht ab, kehrte um,
150Kilometer zurück nach Hause. Doch in ihrem Haus lebten jetzt Polen, einOnkel arbeitete als Knecht auf dem eigenen Hof, die Verwandten des
Vaters waren erschossen worden. Die Familie kam irgendwo unter,Mutter und Tante wurden nachts von polnischen Milizionären abge
holt, verprügelt, acht Tage lang in einen Keller gesperrt. HildegardsBruder, ein blondes und blauäugiges Kind von zwölf Jahren, wurde,
weil er so deutsch aussah, immer wieder willkürlich ins Gesicht geschlagen. Den Jungen und seine Familie traf die Rache derer, die
vorher unter dem deutschen Terrorregime gelitten hatten. Nie wiederhat er sich von dieser Erfahrung völligen Ausgeliefertseins erholt–die Angstträume haben ihn für den Rest seines Lebens nicht mehrlosgelassen.
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Ein Jahr blieb Hildegard Spors mit ihrer Familie noch in der Heimat
– als Arbeitskräfte bei polnischen Bauern. Dann kam die endgültige Vertreibung: die Deportation in Zügen Richtung Westen. Vondem, was sie am Leibe trugen, wurde ihnen ein Teil unterwegs noch
abgenommen. Als sie im Lager Drachensee bei Kiel eintrafen, besaßen sie nichts mehr. Da war Hildegard ein zehnjähriges Mädchenund der Krieg seit einem Jahr vorbei.
Ihre Flucht- und Vertreibungsgeschichte ist eine von vielen. Siezeigt, wie unmöglich es den westlichen Alliierten war, für die «Überführung der Deutschen in humaner Weise» Sorge zu tragen. Denn
noch bevor die Potsdamer Konferenz im Julidie Einzelheitendes längst vorher getroffenen Vertreibungsbeschlusses regelte, erleb
te die deutsche Bevölkerung jenseits von Oder und Neiße die Umsetzung dieser Maßnahme, die am Ende mehr als zwölf Millionen
Deutsche traf.15Wer mit dem Leben davongekommen war und sich in einem derDurchgangslager westlich von Oder und Neiße erst einmal in Sicher
heit wusste, dem wurde mit Hilfe der alliierten Besatzungsbehördeneine vorläufige Bleibe zugewiesen: eine Pritsche in einem gerade
von befreiten Zwangsarbeitern geräumten Lager; eine mit Hilfe vonWolldecken geteilte Scheune; ein Zimmer in einem Bauernhaus, das
die Einheimischen frei räumen mussten.Die Besatzer sorgten mit dem nötigen Nachdruck dafür, dass die
Deutschen zusammenrückten und den Neuankömmlingen Platzmachten. In einem schwer kriegszerstörten Land, dem rund ein
Drittel seines Territoriums mit landwirtschaftlichen Flächen und industriellen Zentren verlorengegangen war, einem Land ohne funktionierende Infrastruktur und aufgeteilt in vier Besatzungszonen,
mussten sie jetzt zwölf Millionen Habenichtse unterbringen, die oftnicht mal mehr einen Löffel besaßen, um die zugeteilte Suppe essen
zu können.Für eine Zwangsumsiedlung dieser Größenordnung und unterdiesen Umständen gab es weder ein Vorbild noch Erfahrungen, ge
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schweige denn einen ausgearbeiteten Plan aufseiten der Allierten.Wie man den Entwurzelten, die psychisch und physisch bereits
großes Leid ertragen hatten, den Neuanfang erleichtern könnte, dazuwurden kaum Überlegungen angestellt. Man brachte die Flüchtlinge
dort unter, wo Platz war, nicht, wo sie sich aufgrund ihrer Herkunftmöglicherweise leichtergetan hätten, ihr Schicksal anzunehmen.
So landete der evangelische Bürgersohn aus der modernen Großstadt Breslau in einem konservativen katholischen Dorf, die katho
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lische Beamtentochter aus Danzig in einem Barackenlager, und derostpreußische Gymnasiast aus guter Familie musste als Knecht bei
einem Bauern die Drecksarbeit verrichten.Die Alliierten befürchteten, es könne zu Aufruhr und Aufständen kommen, wenn man Vertriebene aus denselben Heimatorten
in Gruppen zusammenließ. Deshalb sorgte man dafür, dass siemöglichst verstreut untergebracht wurden– und so den letzten Halt
verloren: das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft von Menschen gleicher Herkunft und Kultur. Nach dem Verlust der Heimat folgte
der Verlust der kulturellen Identität.
Sehr bald, schon vor der sich abzeichnenden Gründung der beidendeutschen Staaten, übertrugen die Besatzungsmächte die Verantwor
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tung für das Schicksal der Vertriebenen auf die deutschen Behörden,die in West und Ost höchst unterschiedlich mit «ihren» Ostpreußen,
Pommern, Schlesiern, Bessarabien- und Sudetendeutschen umgingen.
Die Sowjetische Besatzungszone und spätere DDR hatte,3Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen, allein in MeckRotkreuzschwestern bei der Entlausung von Flüchtlingen mit DDT am
Frankfurter Hauptbahnhof, April1946. Entlassene Kriegsgefangene undFlüchtlinge erhielten Lebensmittelkarten nur gegen Vorlage einer Entlausungsbescheinigung.
17lenburg war bald jeder zweite Einwohner ein «Umsiedler»– diese Bezeichnung schrieb die sowjetische Militäradministration vor, um mit
Rücksicht auf die Sowjetunion und die sozialistischen Bruderländerdie wahren Umstände der Vertreibung zu verschleiern. Schließlich
hatte Polen fast die Hälfte seines Vorkriegsterritoriums im Osten andie Sowjetrepubliken Litauen, Weißrussland und die Ukraine ver
loren und war dafür mit Ostpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg und Schlesien entschädigt worden.
Die SED sprach bald nur noch von «Neubürgern», die besondereLage der Entwurzelten wurde aus der Sprache getilgt, die Betroffenen in keiner Statistik oder Erhebung mehr gesondert erfasst, ihre
Eingliederung als erledigt betrachtet. Im Jahr1946hatten sie vonder sowjetischen Militäradministration eine einmalige Soforthilfe
zugestanden bekommen: eine Unterstützung für Bedürftige und Arbeitsunfähige von300Mark pro Erwachsenem und100Mark für deren Kinder. Eine dem Lastenausgleich vergleichbare Entschädigung
für das verlorene Hab und Gut konnte es schon deshalb nicht geben,weil nicht der Eindruck entstehen durfte, dass dieser Besitz keines
falls freiwillig aufgegeben wurde. Bereits am6. Juni1950erkanntedie DDR-Regierung die Oder-Neiße-Grenze als gültige deutsch-polnische Grenze an und bestrafte forthin jeden, der sie in Frage stellte.
Sich mit ihren Landsleuten zu treffen, um die Kultur der Heimat zupflegen oder sich einfach unter Menschen gleichen Schicksals auszutauschen, war den «Neubürgern» ebenfalls verboten. So erfuhr die
in Mecklenburg angesiedelte Bessarabiendeutsche Elvira Schmidtert nach der politischen Wende1989, wie viele andere Bessarabiendeutsche all die Jahre in ihrer Umgebung gewohnt hatten.
Anders in der Bundesrepublik: Insgesamt7,9Millionen Vertriebene hatten die drei westlichen Besatzungszonen aufgenommen.
Ende1948wurde das von den Alliierten erlassene Koalitionsverbotfür die Vertriebenen aufgehoben, Landsmannschaften wurden gegründet und Interessenvertretungen ins Leben gerufen. Es gab ein
Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte undmit dem BHE, dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten,
sogar eine politische Partei, die sich für die Belange von Flüchtlingeneinsetzte. Umbenannt in Gesamtdeutscher Block, war sie bis weit in
die sechziger Jahre in den Landesregierungen von Hessen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern vertreten und in der zweiten Legislaturperiode von
1953bis57sogar ander Bundesregierung beteiligt. Mit günstigen Baukrediten und demLastenausgleichsgesetz von1953versuchte man, den Vertriebenen
den Aufbau einer neuen Existenz zu erleichtern. Die Wetterkartedes deutschen Fernsehens zeigte noch Mitte der sechziger Jahre wie
selbstverständlich auch Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien,und bei den Heimattreffen der Vertriebenenverbände bemühten sich
Politiker von SPD wie CDU, den Wählern die Illusion, doch noch irgendwann heimkehren zu können, nicht zu zerstören. Das deutsche
Leid und die Kritik an den kommunistischen Regimen im Osten beherrschten die politischen Debatten.
Doch mit der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition WillyBrandts wurden andere Töne angeschlagen, das Vertriebenenministerium wurde
1969aufgelöst, die gelungene Integration als Leistungder Bundesrepublik gefeiert. Die Eingliederung der Vertriebenengalt dank Wirtschaftswunder und Vollbeschäftigung als vollzogen.
Die Vertriebenenverbände gerieten mit ihrem «Recht auf Heimat»in die Defensive und unter generellen Revanchismusverdacht
– derauch die Vertriebenen selbst traf, obwohl inzwischen nur noch einekleine Minderheit von ihnen überhaupt im Bund der Vertriebenen
organisiert war und dessen Politik unterstützte.Brandts Kniefall1970vor dem Mahnmal für die Gefallenen desAufstandes im Warschauer Ghetto von
1943markierte zugleich dieHinwendung zu dem Leid, das Deutsche vor der Vertreibung als Täter verursacht hatten. Man fragte nach Schuld und Verantwortung
für die Zeit des Nationalsozialismus, und jetzt, schreibt die Publizistin und ehemalige Polen-Korrespondentin Helga Hirsch, galt es «als
politisch unkorrekt, über Deutsche als Opfer zu sprechen, währendes als korrekt galt, den Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für
die NS-Verbrechen zu akzeptieren».

Das Schicksal der Flüchtlinge, in den fünfziger Jahren in Heimatfilmen wie «Grün ist die Heide» noch– wenngleich geschönt–
thematisiert, passte nicht mehr in die Zeit, wer von der verlorenenHeimat in Ostpreußen oder Schlesien erzählte, wurde schnell einer
rechten Gesinnung verdächtigt. Mit Ausnahme eines vielbeachtetenDreiteilers des Bayerischen Rundfunks von1981waren Flucht und
Vertreibung auch für das Fernsehen kein Thema mehr.
Das änderte sich mit der Öffnung der Mauer nach1989und derAnerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Regierung Helmut
Kohl1990. Mit dem Blick auf die Länder des ehemaligen Ostblockswuchs nun auch das Interesse an der Geschichte derer, die dort einmal zu Hause gewesen waren. Verhärtete Positionen weichten auf: In
Deutschland wagte man wieder, sich auch den schmerzhaften Erlebnissen der Vertriebenen zuzuwenden, und in den neuen EU-Mitglieds
-
staaten Polen und Tschechien fragten bald vor allem jüngere Bürgernach den tatsächlichen Umständen der «Aussiedlung» der Deutschen
nach dem Krieg. Dass dieser sensible und schwierige Prozess desUmdenkens noch andauert, zeigen die Konflikte im Zusammenhang
mit dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin.Zahlreiche Dokumentationen haben sich seither in der ARD mit
dem Thema Vertreibung befasst– zum Beispiel die zweiteilige Dokumentation «Die Sudetendeutschen und Hitler» (2008) vom Hessischen Rundfunk
– und dabei vorwiegend die Vorgeschichte, Fluchtund Vertreibung selbst und die allerersten Nachkriegsjahre in den
Blick genommen.Auch der WDR hat sich mit zwei dreiteiligen Dokumentationsreihen «Als die Deutschen weg waren» (2005) und «Als der Osten noch
Heimat war» (2009) mit den Gebieten beschäftigt, in denen Deutschebis1945zu Hause waren: Schlesien, Ostpreußen und das Sudetenland, Westpreußen und Pommern. Die erste Reihe beschäftigte sich
mit der Frage, wie es in den einstigen deutsch besiedelten Gebietenweitergegangen war, nachdem ihre Bewohner verjagt worden waren
und Tschechen, Polen oder Sowjetbürger Häuser und Höfe, Ställeund Scheunen, Betriebe und Schulen sowie das hinterlassene kulturelle Erbe in Besitz genommen hatten. Eine Fragestellung, die an
Tabus rührte und deren Beantwortung manchen unserer Zeitzeugenvor allem in Polen und Tschechien noch große Überwindung kostete.
Die zweite Dokumentationsreihe erzählte, welches Leben Deutschein Pommern, Schlesien und Westpreußen führten, bevor man sie
von dort vertrieb: drei Filme, die manch liebgewordenes Vorurteilüber die dortige Gesellschaft und den Alltag vor
1945erschüttertenund fast vergessene Geschichten zutage förderten. Zu beiden Dokumentationsreihen ist auch jeweils ein Begleitbuch erschienen, in dem
einerseits die sehr persönlich erzählten Geschichten der Zeitzeugen ausführlicher und vertiefender, als es der Fernsehfilm vermag,
nachgezeichnet sind und andererseits Historiker das zeitgeschichtWohnhäuser für Flüchtlinge,1950liche Umfeld schildern, das die Lebenswege der Betroffenen beein-
flusste.
«Fremde Heimat– das Schicksal der Vertriebenen nach1945», alszweiteilige Dokumentation vom Hessischen Rundfunk gemeinsam
mit dem Südwestrundfunk und dem Westdeutschen Rundfunk fürdie ARD produziert, schließt daran an: Was geschah mit den Menschen, nachdem sie hier angekommen waren? Kann man wirklich von
der vielbeschworenen «gelungenen Integration» sprechen? Warendie Ablehnung seitens der Einheimischen und das Heimweh und die
Eingewöhnungsschwierigkeiten der Flüchtlinge tatsächlich so groß?Wie ist es ihnen gelungen, Fuß zu fassen und ein neues Leben zu beginnen? Welche politischen Eingliederungsmaßnahmen haben ihnen
dabei geholfen, welche anderen ihnen die Eingewöhnung erschwert?Welchen Preis mussten sie dafür zahlen, wieder dazugehören zu können? Und nicht zuletzt: Was steckt hinter all den Erfolgsgeschichten
vom endlich bezogenen Häuschen, dem florierenden Handwerksbetrieb, den zu Akademikern aufgestiegenen Kindern der einstigen
Habenichtse? Es sind Fragen, die in den zahlreichen seit der politischen Wende1989erschienenen Büchern zu Flucht und Vertreibung
kaum Eingang fanden, da zunächst die Flucht als solche wieder in denBlick rückte und allenfalls die sichtbare Not der ersten Jahre noch
zum Thema wurde.Wie es den Vertriebenen aber danach erging, wie schwer oderleicht es fiel, in der fremden Heimat wieder Wurzeln zu schlagen,
welche Narben auf der Seele zurückblieben– das war unter der Oberfläche der offensichtlich materiell gelungenen Integration schwerlich
auszumachen und blieb dabei weitgehend unberücksichtigt. Die Geschichten der Vertriebenen zu Ende zu erzählen und diese Lücke zu
füllen, haben die Autoren der zweiteiligen Fernsehdokumentationund dieses Buches sich vorgenommen. Auch dieses Mal haben wir
den sehr persönlichen Lebensgeschichten einen Überblick über diezeitgeschichtlichen Zusammenhänge, die zu ihrem Schicksal beitrugen, zur Seite gestellt.
Dreißig ausführliche Interviews mit Zeitzeugen aus ganz Deutschland und aus den unterschiedlichsten Vertreibungsgebieten haben wir
geführt– die meisten der Befragten kamen als Kinder oder Jugendliche hier an. Denn von den damals Erwachsenen, also ihren Eltern
oder Großeltern, leben nur noch wenige. Gehört haben wir dabeisehr unterschiedliche Geschichten, die deutlich machen, dass es das
«Schicksal der Vertriebenen» nicht gibt– vielmehr hängt es sehr vonden einzelnen Umständen der Herkunft und des Ankunftsortes ab,
wie schwer es den Betroffenen fiel, ihr Heimweh zu überwinden undsich zu integrieren.Sicher ist, dass die Entscheidung der Alliierten, Siedlungsgemeinschaften von Vertriebenen nach Möglichkeit bewusst zu zerstreuen,
um ihre Assimilierung zu erzwingen, das Gefühl der Verlorenheitverstärkte. Als Protestant aus der Metropole Breslau und Sohn wohlhabender Stadtbewohner in einer traditionellen und konservativen
katholischen Landgemeinde im Sauerland zurechtzukommen fielbesonders schwer, wenn es niemanden mehr gab, für den das bisherVertraute, Überlieferte, in dem man sich zurechtfand und seinen
Platz hatte, Gültigkeit hatte.Horst-Dieter Lindner aus Schlesien ist es so ergangen. Immerwieder erlebte er als Vertriebener Anfeindung, Demütigungen, Ausgrenzung: «Man hat seine Herkunft und seine Heimat verleugnet. Ich
hätte mich nie getraut zu sagen, dass man Flüchtling ist und dass manaus Breslau, eben aus diesem Osten kam. Man hatte immer Angst,dass einem dadurch irgendwelche Nachteile entstehen.»
Sein jahrzehntelanges Bemühen, sich anzupassen, die eigene Gechichte und den sozialen Abstieg lieber zu verschweigen, zeigt deut
lich, welchen Preis der Junge für den gelungenen materiellen und sozialen Aufstieg zahlte.
Dort, wo es Vertriebenen dennoch gelang, sich in Gruppen anzusiedeln, war bei allen Schwierigkeiten der Neuanfang weniger
schmerzhaft, waren die Demütigungen, Vorurteile, Anfeindungenleichter zu ertragen, das Selbstbewusstsein auch als kulturelle Gemeinschaft besser zu bewahren. Die Siedlung der Bubenreuther
Geigenbauer aus dem Sudetenland ist dafür ein gutes Beispiel. Ge23meinsam gelang es ihnen, das erlernte Handwerk weiterzuführen
und auf diese Weise schnell die Anerkennung der Einheimischenfür den Fleiß und die Strebsamkeit der böhmischen Fachleute zu
erringen. Miteinander sprachen sie weiter ihren Dialekt und spieltendie egerländische Musik. «Dann ist es uns natürlich nicht so schwer
gefallen wie Leuten, die allein irgendwohin gekommen sind», erzähltKurt Lutz aus Bubenreuth: «Wir waren ja lauter Egerländer in der
Siedlung, da hat einer den anderen gekannt. Wenn du aus der Straßerausgegangen bist, haben sie dich gerufen, beim Namen.»
«Typisch für die Flüchtlinge war», sagt Peter Kurzeck, «dass sie zuviel gearbeitet haben. Dass sie einfach versucht haben, alles, was sie
verloren hatten, nochmal neu aufzubauen.» Und von ihren Kindern,erzählt er weiter, erwarteten sie den gleichen zähen Aufstiegswillen:
«Dass sie erstens eine gute Berufsausbildung benötigen und zweitens in der Ausbildung schon so fleißig sein müssen, dass die Firma
merkt, sie kann einen gut gebrauchen, das wurde den Flüchtlingskindern halt eingehämmert.» Die anfängliche Ablehnung durch die
Einheimischen wich im Laufe der Zeit einer schrittweisen Anerkennung der Vertriebenen, deren unermüdlicher Fleiß auffiel und deren
Beitrag zum Wirtschaftswunder und zum Wiederaufbau nicht mehrestritten wurde.
Als Anfang der siebziger Jahre die Integration der Vertriebenen alsgeglückt gefeiert und das Thema vorerst ad acta gelegt wurde, hatten
viele unserer Zeitzeugen den Aufstieg geschafft und ihre schmerzhaften Ausgrenzungserlebnisse auf dem Weg dahin verdrängt, erleichtert, endlich dazuzugehören und sich nicht mehr beständig
schützen oder rechtfertigen zu müssen. Ihren Eltern, das berichtenfast alle, fiel das sehr viel schwerer. Viele verkrafteten die völlige Ent
wurzelung nie. Seine Mutter, erzählt Peter Kurzeck, habe, wenn sieim hessischen Staufenberg aus dem Fenster sah, immer nur ihren
böhmischen Heimatort Franzensbad gesehen.Doch mit zunehmendem Alter und verstärkt durch die Öffnungder Grenzen nach, brach auch bei denen, die als Kinder alles
darangesetzt hatten, sich einzufügen und die Demütigungen zu ver
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