Gedeck, doppelt!
Norbert Eberlein
Gedeck, doppelt!
Schon vor vielen Jahren hatte der Bauer Kurt Brakelmann erkannt, dass die Landwirtschaft eigentlich der Mühe nicht wert war. Nach und nach verlor er das Interesse an der Schweinezucht, gab die Kühe auf und verrichtete auf seinen Feldern nur noch das Nötigste: Er schritt sie ab, blickte übersie hinweg, bedauerte ihren Zustand. Zwar erntete er wohleinige Rüben und Kartoffeln und kassierte auch einen kleinen
Pachtzins, doch die Einnahmen daraus erlaubten ihm nur einenbescheidenen Lebenswandel. Und so begnügte er sich mit einfachen kulinarischen Genüssen, gab stets anderen die Schuldfür seinen Niedergang, wartete auf eine bessere Zukunft undverharrte bis dahin im Erreichten.Seine Heimat lag weit im Norden, dort, wo das Land in weichen Wellen grün und lieblich in die Norddeutsche Tiefebene
abfällt. Fernab von Autobahnkreuzen und Strommasten, inmitten der Stille einer vor Jahrzehnten zuletzt berührten Gegend nahe dem HundertSeelenDorf Büttenwarder befandsich sein Hof, zerfallen mittlerweile und ärmlich und dochvoller geheimer Schätze, die in den Abseiten und Speichernmoderten. Verstaubte Fotoalben lagerten hier, festgeschnürtePakete mit uralten Ausgaben derLandpostille, unbrauchbare
Werkzeuge, Waffen und Kleidungsstücke der Vorväter.Als bevorzugter Aufenthaltsort galt Brakelmann die Bauernküche, eingerichtet noch von seinen Eltern mit geringenfinanziellen Mitteln und unaufwendigen Einrichtungsideenin den fünfziger Jahren. Seit langem war sie nicht mehr grundgereinigt worden. Wer hätte das auch machen sollen?
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Drei feste Orientierungspunkte fand er hier vor. Da warder mit Speisespritzern beschichtete Herd im toten Winkelneben der Tür zur Bauernstube, da war der vorrangig mit Bierund Köm, Gewürzgurken und Wurstwaren befüllte Kühlschrank auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem das alteSkalenradio platziert war, auf dem sich wiederum ein Brotkasten befand, den Brakelmann seit Jahren schon nicht mehr
geöffnet hatte, obwohl darin noch ein feines Roggenmischbrot auf Verzehr wartete. Dazwischen stand der Küchentisch, Drehund Angelpunkt seiner häuslichen Aktivitäten.
Brakelmann setzte sich vorzugsweise so, dass er die mehrfach überstrichene halb dunkelgrüne, halb schotterfarbeneWand sah. Davor hing stets an einer quer gespannten LeineHandtuchmaterial, das er im Bedarfsfall jederzeit hätte zumEinsatz bringen können. Wenn er von diesem Anblick genug
hatte, konnte er durch eine leichte Wendung des Kopfes nachrechts das Fenster sehen, vor dem eine ins Gelbliche changierende Gardine die Verhältnisse auf dem Hof draußen aufs
Romantischste verschleierte. Wann immer Brakelmann hiersaß, er war meistens zufrieden. Alles um ihn herum war, soschien es ihm, fein abgestimmt auf seinen Charakter, seinenGeschmack. Sein Zuhause war, so resümierte er gern, einWort aus einer Reklamebeilage desLandbotenaufgreifend,das reine Ambiente, sein Ambiente.In der angrenzenden guten Stube saß Brakelmann seltener.Hier beherrschte ein grüner Kachelofen den Raum, hier wardie den Blütenkelchen von drei weißen Callas nachempfun
dene Stehlampe, hier war das Fernsehgerät, das allerdings nurdas Programm eines einzigen Senders abzustrahlen imstandewar und oftmals nur mit gezielten Tritten oder Schlägen inBetrieb genommen oder ausgeschaltet werden konnte. Es wardiese Anstrengung gewesen, die Brakelmann die Freude am
Televisionieren fast gänzlich genommen hatte. Von der Wandrechts davon pellte sich ein Jahreskalender von 1972. Auf demsandfarbenen Sofa mit seinem Design aus hingewürfelter Karostruktur, dessen nachgiebige Polsterung eine gute Vorstellungvon zahllosen Gesäßrundungen vermittelte, die hier im Laufe
der letzten fünfzig Jahre abgesenkt worden waren, auf diesemSofa schlief Brakelmann vorrangig, wenn ihm nächtens derGang in sein schmuckloses Bett als zu beschwerlich erschien.Für diese Fälle hatte er stets eine verfilzte alte Pferdedeckezur Hand, die er nur über sich zu legen brauchte, um sodann,das Haupt tief in die klumpigen Sofakissen gedrückt, in seinebewegten Träume hinüberzugleiten.Kurt Brakelmann war mittlerweile in seinen besten Jahren.Das heißt, ihm taten die Knochen weh, wenn er morgens auf
stand und zum Waschbecken trat, um sich die Zähne zu putzen; das heißt, er musste sich hinsetzen und zugleich seitlichabstützen, wenn er nur in seine ausgetretenen Gummistiefelschluppen wollte; das heißt, in seinem Gesicht erschlaffte dasGewebe. Und dennoch war dieser Mann wunderschön anzusehen, denn er verkörperte alles, was er war – nicht mehr undnicht weniger. Er sah nicht klüger oder interessanter oder
besser aus, als er war. Nur ein besonderes Merkmal umwehtesein Antlitz. Wenn er nämlich einem von weitem entgegentrat,war es sehr schwer, ihn nicht für einen Teil der Landschaft zuhalten. Wenn sonst dort, wo der Mensch ist, die Landschaftaufhört, so war bei Kurt Brakelmann der Fall anders gelagert.
Er wirkte wie die Fortsetzung der Natur mit anderen Mitteln.Und das hatte seinen guten Grund. Er war schließlich immernoch Bauer. Er war ein Teil seiner Heimat. Und der Rest derWelt interessierte ihn nicht die Bohne.Trat er durch die in der windschiefen Angel gleichsam schwebende Stalltür hinaus ins Freie, so blickte er nicht nur überins Ausland, war belesen und kultiviert. Die anderen im Dorfhatten sich damit abgefunden.Seine Frau Ingelore wurde selten gesehen. Von ihr warnur bekannt, dass sie eine leidenschaftliche Imkerin war, amWochenende gern töpferte, versiert Bridge spielte und dabei
zum Schummeln neigte. In der Weihnachtszeit verbrachte siezudem bei adventlicher Musik viel Zeit am heimischen Backblech. Die mannigfaltigen Aktivitäten seiner Frau erlaubtenDr.Schönbiehl einen Lebenswandel, der bisweilen ans geradezu Junggesellenhafte grenzte. Er dankte ihr im Stillen jeden
Tag dafür.«Wann hat sie die denn gemacht?», fragte Brakelmann, derinzwischen wieder am Tresen saß, in die Dose von IngeloreSchönbiehl gegriffen hatte und müde an einem steinernenKeks nagte.
«Letztes Jahr», erwiderte der Bürgermeister heiter. «Ingeloresagt, sie backt erst wieder neue, wenn die alten aufgegessensind. Da hab ich gleich an euch gedacht...» Leutselig blickteder Würdenträger in die Runde.Hinter dem Tresen bastelte Shorty jetzt einen kleinenPlastiktannenbaum zusammen, davor tranken Brakelmann,Adsche, Kuno und der Bürgermeister ihr Gedeck, ein goldglänzendes kleines Bier mit einem silbrig funkelnden Weizenschnaps dazu.Ein Hauch von weihnachtlicher Stimmung wehte leise durch
die Schenke.«Lebkuchen gehören doch irgendwie dazu... Findet ihrnicht?», fragte Dr.Schönbiehl.
Shorty ließ sich von dieser Anmerkung jedoch nicht einlullenund begann nebenher die nächsten Biere zu zapfen. «Ach, hördoch bloß auf, Bürgermeister. Überall frohlocken die Kassen,nur bei uns ist Stille Nacht.»
«Ja», sagte Adsche. «Genau.»«So isses», meinte Brakelmann.
«Und ich auch nich...», stimmte Kuno zu, der den Anfangder gemeinsamen Tirade verpasst, aber den Grundton vonFrustration und tiefer Kränkung gedankenschnell aufgefangen hatte.
«Dieses Gejammer», entfuhr es Dr.Schönbiehl. «Weihnachten – da geht es doch um ganz andere Werte.»
Brakelmann baute sich vor dem Bürgermeister auf, ohnesich von seinem Sitzplatz zu erheben. Er streckte einfach dasBrustbein gen Dorfkrugdecke und hatte bereits damit eine wirkungsvolle Drohgebärde zustande gebracht. Auch er mussteschließlich mit den körpereigenen Energien haushalten. «Sach
ma ’n Beispiel.»«Um Besinnlichkeit zum Beispiel. Und Liebe.»
«Und warum fahren dann alle nach Klingsiehl und kloppensich wie die Blöden in der Fußgängerzone?»
«Ja, weil das alles völlig pervers geworden ist», erwidrteDr.Schönbiehl empört. «Und es allen nur noch ums Geldgeht.»«Uns geht es auch nur ums Geld! Aber wir haben hier überhaupt keine Chance, pervers zu sein», klagte Brakelmann seinerseits den Bürgermeister an.Der blickte müde gen Himmel und seufzte: «Um Gottes willen... dieses Theater!»«Ja, das isses! Genau!» Brakelmann hielt augenblicklich inne.
Ganz offensichtlich war er erleuchtet.Adsche musterte ihn. Er kannte diese Momente. Sie lösten Fanfarenstöße aus in seinem Gemüt und versetzten ihnzugleich in hochverdichtete Anspannung, denn jetzt durfte erkeinen Fehler begehen, keinen günstigen Zeitpunkt für einesich möglicherweise anbahnende wirtschaftliche Trittbrett